Nubila 4


Nubila Teil 4: Nubila-Die Entscheidung


Während ihrer Reise nach Island lernen Laney und Darrek sich unfreiwillig besser kennen, was beide in eine schwierige Situation bringt. Laney misstraut Darrek, weil er ihre Mutter getötet hat. Darrek indes schafft es nicht zu vergessen, dass Laney Jasons Tochter ist. Sein alter Freund und Rivale, den er als Verräter betrachtet. Dennoch fühlen die beiden sich unweigerlich zueinander hingezogen.
Gleichzeitig müssen sie den Outlaws dabei helfen eine Bedrohung abzuwenden, die schon seit Jahren über dem Dorf schwebt. Nur dann sind diese bereit Darrek bei seinem Anliegen zu helfen.



Erweitertes Probekapitel


Kapitel 1

„Laney ist bei wem?“
Jason war fassungslos. Kathleen spürte, wie tausend widersprüchliche Gefühle in ihm hochkochten. Wut, Unglauben und so etwas wie Eifersucht. Aber gleichzeitig auch Dankbarkeit und Erleichterung. Als Cynthia vor einer halben Stunde im Herrenhaus angekommen war, hatte Jason seine Cousine und ihre kleine Familie so herzlich begrüßt, wie es sich gehörte.
Alle waren vollkommen überrascht gewesen, so plötzlich wieder von ihr zu hören. Jahrelang hatte niemand gewusst wo sie war, bevor sie an diesem Morgen bei ihrem Bruder Greg angerufen hatte, um ihn zu bitten, sie und ihre Familie vom Flughafen abzuholen.
Jason war außer sich vor Freude gewesen, seine Cousine wiederzusehen. Und daran hatte auch die Überraschung nichts ändern können, dass Cynthia in der Zeit ihrer Abwesenheit ein Kind von seinem Bruder Simon zur Welt gebracht hatte und inzwischen mit einem Kaltblüter verbunden war.
All diese Neuigkeiten nahm Jason vollkommen gelassen hin und lauschte Cynthias Geschichte schweigend, solange, bis die Sprache plötzlich auf Laney kam. Ähnlich wie Cynthia war Jasons Tochter vor einiger Zeit verschwunden und niemand hatte bisher wieder von ihr gehört. Und so langsam fragte Kathleen sich, ob das nicht die bessere Alternative gewesen war.
„Darrek hat versprochen, auf sie aufzupassen“, erklärte Cynthia kleinlaut.
Ihr war klar, wie sehr Jason seine Tochter liebte, und konnte sich nur schwer ausmalen, welche Qualen es für ihn bedeutete, nicht zu wissen, wo sie sich befand. Sie selbst war noch nie längere Zeit von ihrer Tochter getrennt gewesen und stellte sich diese Unwissenheit schrecklich vor. Celia war schon seit Stunden dabei, das gesamte Haus auf den Kopf zu stellen, und die Kaltblüterin Delilah hatte ihre liebe Mühe damit, das Kind einigermaßen ruhig zu halten. 
„Und das habt ihr ihm geglaubt?“, herrschte Jason sie an. „Ja, seid ihr denn vollkommen wahnsinnig geworden?“
„Sie ist freiwillig mit ihm gegangen, um mir das Leben zu retten“, sagte Cynthias Partner Coal schnell. „Eure Tochter ist sehr mutig, Herr.“
„Sprich ihn nicht mit Herr an, Coal“, bat Kathleen sofort. „Du musst Jason wirklich entschuldigen. Er ist etwas durch den Wind wegen seiner Tochter. Aber es wäre doch lächerlich, wenn er noch auf den alten Regeln beharren würde, während er gleichzeitig mit mir verbunden ist.“
Coal nickte und machte dann eine ausladende Handbewegung.
„Ich weiß“, sagte er. „Aber in einer Umgebung wie dieser hier kommen die alten Gewohnheiten wieder durch.“
„Solange du nicht wieder anfängst, mich mit Herrin anzureden …“, sagte Cynthia und knuffte ihren Mann zärtlich in die Seite.
Kathleen lächelte. Es freute sie unendlich, dass Jasons Cousine endlich auch jemanden gefunden hatte, mit dem sie glücklich war. Es gab kaum jemanden, dem sie es mehr gegönnt hätte als ihr. Denn nichts war schlimmer als unerfüllte Liebe.
„Warum habt ihr sie nicht gezwungen mitzukommen?“, fragte Jason aufgebracht.
„Dann hätte Darrek meinen Mann getötet“, gab Cynthia zurück. „Darrek ist ungewöhnlich stark. Selbst für einen Warmblüter.“
Jason nickte.
„Ja. Das weiß ich.“
Er sackte in sich zusammen und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Kathleen trat sofort an seine Seite.
„Wisst ihr denn wenigstens, wo er mit ihr hinwollte?“, fragte er betrübt.
Aber Cynthia schüttelte den Kopf.
„Darrek hat ein großes Geheimnis daraus gemacht. Er wollte mit ihr begabte Wilde jagen. Aber ich habe keine Ahnung, wo.“
„Na, das klingt ja wirklich nach einem sehr lustigen Zeitvertreib.“
„Spar dir den Sarkasmus, Jason“, bat Kathleen. „Immerhin geht es Laney gut. Sie ist am Leben und nicht in den Fängen der Ältesten. Das ist doch die Hauptsache.“
„Du hast ja keine Ahnung, wozu dieser Mann imstande ist, Kath. Ich kenne Darrek besser als seine eigene Mutter. Und er hasst mich. Was, wenn er dieses Gefühl an Laney auslässt?“
„Das wird er nicht“, sagte Cynthia überzeugt. „Er hat gesagt, dass er Kara versprochen hat, auf ihre Tochter aufzupassen. Er wird ihr nichts tun.“
„Ach ja? Und wann soll das gewesen sein? Er hat Kara doch überhaupt nicht mehr gesehen, seitdem ich sie von den Ältesten fortgeholt habe. Er konnte doch von unserer Tochter gar nichts wissen.“
Kathleen sah, wie Cynthia und Coal Blicke tauschten, als müssten sie eine schwierige Entscheidung treffen. Und sofort spürte Kathleen, dass es besser für Jason wäre, wenn die beiden ihm diese Geschichte nicht erzählen würden.
Aber Cynthia war Jasons Cousine. Sie liebte ihn und würde ihn nicht belügen. Cynthia straffte die Schultern und fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. Dann sah sie ihren Cousin an.
„Jason … Damals in der Nacht, als Kara starb …“
„Ja?“
„Sie ist nicht von Wilden ermordet worden … sondern von Darrek.“

Kathleen fand Jason ein paar Stunden später genau an der Stelle, wo sie ihn vermutet hatte. Bei Karas Portrait. Sie hatte ihm ein paar Stunden Zeit gegeben, um sich wieder zu fassen. Wie zu erwarten, hatte ihn die Wahrheit über den Tod seiner ersten Frau sehr stark mitgenommen und er hatte es vorgezogen, aus dem Zimmer zu gehen, um Kathleen die volle Härte seines Gefühlsausbruchs zu ersparen. Dafür war sie ihm sehr dankbar.
Sie war sich sicher, dass Jason sie liebte, aber ihr war auch klar, dass er Kara mindestens ebenso sehr geliebt hatte und dass er sie sicherlich nicht verlassen hätte, wenn sie nicht vor Jahren gestorben wäre. Kathleen hatte zwar auch vor einigen Jahren ihren Verlobten verloren, der ihr viel bedeutet haben musste, aber im Gegensatz zu Jason konnte sie sich kaum noch an ihre Gefühle für ihn erinnern. Kathleens Bilder aus der Zeit vor ihrer Verwandlung waren verblasst. Wenn sie an Sam dachte, den Mann, den sie einmal hatte heiraten wollen, dann fiel es ihr schwer, sich sein Gesicht ins Gedächtnis zu rufen. Das Einzige, was ihr von ihm geblieben war, war der grüne Smaragdring, den sie stets am Finger trug.
„Wie geht es dir?“, fragte Kathleen, obwohl sie seine Qualen durch die Verbindung spüren konnte.
Er saß dem Gemälde gegenüber und starrte seine verstorbene Frau an, als würde er um Verzeihung flehen.
„Ich habe nie infrage gestellt, dass sie von Wilden getötet wurde“, sagte Jason betrübt und sah Kathleen an. „Ich habe nie eine andere Option in Erwägung gezogen, so als könnte es gar nicht anders sein. Und Laney? Laney muss damals dabei gewesen sein. Wie viel hat sie gesehen? Wie viel hat sie mitbekommen? Hat sie deswegen so lange nicht gesprochen? Hatte man sie zum Schweigen verpflichtet? Und ich dachte immer, sie hätte nur unter Schock gestanden. Kath. Bin ich ein schlechter Vater?“
Kathleen hätte gelacht, wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre. Jasons Sorgen waren lächerlich, aber wenn sie ihm das sagte, würde es die Besorgnis nicht verschwinden lassen.
„Du bist kein schlechter Vater“, versicherte Kathleen und setzte sich auf einen der Stühle neben ihn. „Und du warst auch kein schlechter Ehemann. Man hat alles getan, um dich glauben zu lassen, Kara wäre von Wilden ermordet worden. Es ist keine Schande, dass du diesem Irrtum erlegen bist. Jeder hätte so reagiert.“
Jason schüttelte den Kopf.
„Es tut mir so leid, dass du meine Gefühle mittragen musst, Kath“, sagte er. „Wenn es anders herum wäre und du dir so viele Gedanken wegen Sam machen würdest, würde ich wahrscheinlich fast verrückt werden vor Eifersucht.“
„Nun. Wenn du nicht so abgelenkt wärest von deinen eigenen Gefühlen, würdest du merken, dass ich ebenfalls Eifersucht empfinde, Jason. Aber ich versuche sie zurückzudrängen, weil sie unangebracht ist. Und genau dasselbe tust du auch. Und zwar jedes Mal, wenn du den goldenen Ring an meinem Finger siehst. Wir haben beide eine Vergangenheit. Und aus deiner ist sogar eine Tochter hervorgegangen, die ich sehr liebe. Laney ist wahrscheinlich das einzige Kind, das ich je haben werde. Und ich mache mir genauso große Sorgen um sie wie du. Aber du kannst sie nicht vor allem schützen, Jason.“
„Nein. Aber ich hätte sie vor Darrek warnen sollen.“
„Warum?“
„Weil Darrek mich hasst. Er hat es nie verwunden, dass Kara mich erhört hat und nicht ihn.“
„Aber ich dachte, die beiden waren Cousins.“
„Und?“
Kathleen zögerte und zuckte dann mit den Schultern. Nur weil Jason Cynthias Liebe nicht erwidert hatte, bedeutete das nicht, dass das für alle anderen Cousins ebenfalls galt. Es kam Kathleen zwar immer noch eigenartig vor, aber bei den Warmblütern war eine Beziehung zwischen direkten Cousins nicht nur erlaubt, sondern oft sogar erwünscht.
„Nichts und“, sagte Kathleen. „Sprich weiter.“
„Jeder Mann hat Kara bewundert. Sie war eine wunderschöne Frau und hatte Klasse und Stil. Darrek wollte sie für sich haben.“
„Hat er sie geliebt?“
„Darrek würde sagen: Nein. Aber ich bin mir da nicht so sicher. Er hatte immer schon Probleme damit, sich seine Gefühle einzugestehen. Die einzige Zeit, in der er völlig zügellos leben konnte, war bei den Outlaws. Aber seit er zu den Ältesten zurückgekehrt ist, hat er lernen müssen, sich zu beherrschen. Seine Schwester und Kara waren sein einziger Halt. Und ich war lange einer seiner wenigen Freunde. Ich habe ihm einmal auf der Jagd das Leben gerettet. Seither stand er in meiner Schuld … Ich verstehe heute noch nicht, wie er es geschafft hat, sich nur wegen Kara so zu verändern.“
„Liebe und Hass liegen nah beieinander, Jason. Wir können nur jemanden hassen, der uns wichtig ist. Ansonsten wäre das Gefühl verschwendet.“
Jason sah auf. Er war Kathleen so dankbar dafür, dass sie bei ihm war. Sie hielt zu ihm, egal, welche Probleme er mit sich herumschleppte. Und sie hörte ihm zu, selbst wenn es ihr Schmerzen bereitete, von seinen Gefühlen für Kara zu erfahren. Aus einem Impuls heraus beugte er sich nach vorne und zog Kathleen zu sich heran, um sie zu küssen. Sie reagierte sofort auf ihn.
Sie drückte sich an ihn und wurde von Hitzewellen durchfahren, die augenblicklich auf ihn übersprangen und Lust nach mehr entfachten. Jason zog sie auf seinen Schoß und umarmte sie, als müsste er der ganzen Welt beweisen, dass sie zu ihm gehörte.
„Ich liebe dich, Kathleen“, sagte er atemlos. „Ich bin so froh, dass ich dich habe. Und dass Laney dich verwandelt hat, war das Beste, was mir je widerfahren ist.“
Kathleen stieß ein leises Kichern aus, während sie an seinem Hals knabberte.
„Das hast du die ersten Monate aber nicht so gesehen“, erinnerte sie ihn. „Ich weiß noch, dass du mit mir deine liebe Not hattest.“
„Ja. Aber nur, weil ich mir eingebildet habe, mich den Regeln und Gesetzen der Warmblüter unterwerfen zu müssen. Wären wir einander gleichgestellt, dann hätte ich dich vermutlich schon viel eher ins Bett gezerrt.“
Kathleen löste sich von Jason und sah ihn verletzt an.
„Jason. Wir sind einander gleichgestellt. Ich weiß, dass du hundert Jahre lang etwas anderes geglaubt hast. Aber du musst aufhören, so zu denken. Die Welt hat sich verändert. Sie hat sich weitergedreht. Manchmal glaube ich, dass eure verdammte Unsterblichkeit euch resistent macht gegen jede Art von Veränderungen.“
Als Kathleen aufstehen wollte, hielt Jason sie fest und drückte sie an sich.
„Geh nicht“, bat er. „Bitte, Kath. Ich … Es tut mir leid. Dieser Kommentar war dumm und unüberlegt von mir.“
„Du hast ja keine Ahnung, wie schwierig das alles für mich ist, Jason. Wir sind jetzt seit über fünfzehn Jahren verbunden. Und trotzdem fühle ich mich immer noch fremd in deiner Welt. Und weißt du warum? Wegen Äußerungen wie der von gerade eben. Ich komme gut damit zurecht, dass du ein Leben vor mir hattest, Jason. Das hatte ich schließlich auch. Aber ich will, dass du dir jetzt sicher mit mir bist.“
Traurigkeit schwappte von ihr auf ihn über und Jason bekam ein furchtbar schlechtes Gewissen. Er vergrub sein Gesicht in ihren Haaren und strich ihr liebevoll über den Rücken. Er wollte die negativen Gefühle von ihr fortwischen, bis sie seine Worte vergessen hatte.
„Es tut mir so leid, Kathleen. Manchmal bin ich immer noch wie ein dummer Schuljunge, der redet, ohne vorher darüber nachzudenken. Verzeih mir.“
Er küsste ihren Hals und ein wohliger Schauer überlief Kathleen.
„Du kämpfst eindeutig mit unfairen Mitteln“, knurrte sie.
Aber dann gab sie nach und drückte sich wieder an ihn. Sie konnte Jason nie lange böse sein und es war Unsinn, sich wegen solcher Kleinigkeiten zu streiten. Ein Krieg stand bevor und sie hatten keine Ahnung, wo Laney war.
Es war nicht sicher, ob einer von ihnen in ein paar Monaten noch leben würde. Insofern sollten sie die Zeit, die ihnen blieb, lieber mit erfreulichen Dingen verbringen. Streiten konnten sie nach dem Krieg schließlich immer noch.


Kapitel 2

Johanna Mirjanasdottier liebte Island. Sie liebte die Berge und die Kälte, die Natur und die frische Luft. Städte und Menschenansammlungen waren ihr zuwider. Das hatte sie im Laufe ihrer einhundertzehn Lebensjahre ausgiebig feststellen können. Und auch wenn ihr Körper schon seit langem nicht mehr auf dieselbe Art gehorchte wie in ihrer Jugend, war sie immer noch gut zu Fuß. Johanna hatte das Pech gehabt, alle ihre Kinder zu verlieren, bevor sie selbst diese Welt verließ. Ihr jüngster Sohn Sven lebte zwar noch, aber er hatte schon vor über sechzig Jahren der Siedlung den Rücken gekehrt, um allein durch die Welt zu ziehen. Johannas anderer Sohn Olaf war vor fünfzig Jahren auf der Jagd gestorben und ihre Tochter Anna war vor zwei Jahren eingeschlafen, ohne jemals wieder aufzuwachen.
Es erschien Johanna ungerecht, immer noch auf Erden wandeln zu müssen, während ihre Tochter friedlich ins Reich der Toten entschlummert war. Doch sie wollte nicht klagen. Immerhin ging es ihr gut, was sehr viel mehr war, als die meisten anderen in ihrem Alter behaupten konnten. Und es gab wahrhaftig wichtigere Probleme im Dorf.
Obwohl sie noch nicht müde war, beschloss Johanna auf ihrem Spaziergang eine Pause einzulegen. Sie setzte sich an den Rand des Weges und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Der Weg führte an einem Abhang entlang, wodurch Johanna freie Sicht bis hinunter in das Tal hatte, in dem sie lebte. Das Dorf lag sehr abgelegen und war nur zu Fuß oder mit dem Pferd erreichbar. Zugverbindungen oder Autoverkehr gab es nicht. Johanna konnte zwar Auto fahren, hatte aber nie sonderlichen Wert darauf gelegt. Es war ihr wichtiger, dass ihr Volk unter sich blieb.
Zufrieden lehnte sich Johanna zurück. Ihr Haar war schon lange ergraut, aber noch immer voll und weich. Ihre Arme und Beine waren in den letzten Jahrzehnten immer dünner geworden, aber sie funktionierten noch sehr gut. Ihre Schönheit war schon vor langer Zeit verwelkt und kaum noch etwas erinnerte an die begehrenswerte Frau, die sie einmal gewesen war. Die Zeit hatte ihren Tribut gefordert, und es hatte nichts gegeben, was sie dagegen hätte unternehmen können. Doch Johanna weinte ihrer Jugend nicht hinterher. Nichts währte ewig, auch wenn die Ältesten und ihre Anhänger sie das glauben machen wollten. Mit ihrem Schlaftrunk und der Verbindung, die angeblich für alle Zeiten halten sollte. Johannas Meinung nach war das alles nur eine Illusion. Sie persönlich war froh darüber, nicht mehrere tausend Jahre leben zu müssen. Sie hatte über hundert Jahre auf dieser Erde verbracht und eindeutig die Nase voll davon.
Zumindest würde sie nicht miterleben müssen, wie ihr Dorf durch die wiederholten Heimsuchungen weiter schrumpfte und sich schließlich vollkommen auflöste. Solange ihr Körper es zuließ, würde sie ihre Enkel und Urenkel natürlich unterstützen. Aber sie würde sich gewiss nicht wehren, wenn der Tod eines Tages beschloss, sie zu sich zu holen.
Johanna schloss die Augen und atmete tief durch. Der Duft der letzten Blumen und die frische Gletscherluft stiegen ihr in die Nase, und sie lächelte. Diese Momente. Die waren es, wofür es sich zu leben lohnte. Nicht Geld, Macht oder Reichtum. Nein. Einfach die Ruhe, die einem die Natur vermitteln konnte. Der Duft von Pflanzen, Gletscherwasser und … Menschen?
Johanna stutzte und öffnete die Augen. Sie sah sich um, konnte aber niemanden in der Nähe sehen. Hatte sie sich geirrt oder hatte sie soeben wirklich einen Menschen gerochen? Menschen hatten in diesem Teil des Landes nichts verloren. Es war gefährlich, wenn sie den Kindern zu nahe kamen, und an allen Wanderwegen waren Warnschilder aufgestellt, die Touristen am Weitergehen hindern sollten. Außerdem war das Dorf von hohen Bergen umgeben, die es unmöglich machten, von Norden, Osten oder Süden in das Tal zu gelangen. Der einzige sichere Weg führte über einen breiten Fluss, der an einer Stelle besonders flach war. Kein Mensch wusste von dieser Stelle und sie konnte höchstens durch Zufall entdeckt worden sein. Es gab auch eine alte Hängebrücke, die an anderer Stelle über den Fluss führte. Aber die war seit langer Zeit so morsch, dass niemand es wagen würde, sie zu benutzen. Menschen kamen nicht auf diese Seite des Tals. Das war seit Jahrzehnten nicht passiert. Zum Glück. Denn meistens endeten solche Besuche sehr unschön und gingen mit vielerlei Problemen einher.
Johanna blickte den Weg hinunter und sah, wie in diesem Moment ein junger Mann um die Ecke bog. Ein Mensch.
Sofort lief ihr das Wasser im Mund zusammen, ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können. Ihre Zunge tastete nach den einzigen Zähnen, die ihr noch geblieben waren. Ihren Giftzähnen.
Im Gegensatz zu allen anderen Zähnen waren diese ein fester Bestandteil des Kieferknochens. Sie waren bei Johanna im Alter von einem Jahr gewachsen und würden niemals ausfallen. Eine Tatsache, die Johanna eher als hinderlich empfand. Ohne den Einsatz der Giftzähne war es sehr viel leichter, einen Menschen am Leben zu lassen. Man trank von ihm, wünschte ihm noch einen schönen Tag und ging seiner Wege. Das Gift jedoch verwandelte die Menschen in Wilde. Eine Tatsache, die dem Dorf seit zwanzig Jahren in den Vollmondnächten Probleme bereitete. Es war daher besser, beim Trinken die Zähne nicht zu verwenden oder das Opfer vorsichtshalber zu töten.
Als der junge Mann auf Johanna zukam, schluckte sie. Es war schon so lange her, dass sie frisches Menschenblut getrunken hatte. Während es in Johannas Jugend noch einfach gewesen war, Menschen verschwinden zu lassen, ohne dass jemand Verdacht schöpfte, wurde es im Zeitalter der modernen Technologien immer schwieriger. Jeder Mensch wurde nach seiner Geburt akribisch dokumentiert. Seine Identität, sein Alter, Adresse, Größe und sogar die Augenfarbe. Alles wurde genauestens notiert. Das Einzige, was man noch nicht festhielt, waren Gewicht und die sexuelle Orientierung. Johanna vermutete aber, dass auch diese Informationen irgendwann einmal im Reisepass stehen würden.
Tatsache war, dass die Menschen auf der Hut waren. Die Regierungen wussten über die Existenz von Vampiren Bescheid und hatten mit den Ältesten und ihren Anhängern ein Abkommen geschlossen. Johanna und ihre Leute hingegen existierten offiziell gar nicht. Geächtet, verachtet, von niemandem gewollt.
Die anderen Warmblüter nannten sie die Aussätzigen oder die Outlaws, weil sie nicht zur Gesellschaft gehörten und nirgendwo erwünscht waren. Dabei waren doch ursprünglich die Ältesten die Außenseiter gewesen. Bevor die Schwestern vor so vielen Jahren den Schlaftrunk entdeckt hatten, war das Leben aller Warmblüter genauso gewesen wie das von Johannas Leuten. Sie hatten sich zu Gruppen zusammengefunden und sich gegenseitig geschützt. Sie hatten Menschen auf der Straße aufgesammelt, um sich und ihre Familien zu ernähren. Sie waren geboren worden, hatten gelebt und waren gestorben. Doch der Schlaftrank hatte alles verändert. Er hatte den Schwestern Macht verliehen. Eine Macht, die sie in sich aufsogen und sich zu eigen machten, bis man das Gefühl hatte, sie wäre mit ihnen verschmolzen.
Johanna überlegte, was sie tun sollte, als der junge Mann näher kam. Er wirkte nicht, als stamme er aus der Gegend. Die Menschen Islands wussten, dass sie der Siedlung nicht zu nahe kommen durften. Zu häufig waren in der Vergangenheit Unfälle geschehen, die den Menschen Angst machten. Die Siedlung schien verflucht zu sein und niemand kam freiwillig in die Nähe. Niemand außer unbedarften Touristen wie diesem jungen Mann, die nicht an Märchen glaubten und all das Gerede für Aberglauben hielten. Vampire gab es doch nur in Legenden.
„Guten Tag auch“, flötete der junge Mann, als er fast auf ihrer Höhe war. Er hatte einen starken irischen Akzent, doch sein Englisch war klar genug, damit Johanna es verstehen konnte. „Ein wunderschönes Wetter heute, nicht wahr?“
Johanna betrachtete den Mann eingehend. Wie sie bereits festgestellt hatte, war er noch jung. Um die zwanzig. Nicht sonderlich kräftig, aber auch nicht schmächtig. Seine Haare waren karottenrot und er hatte Sommersprossen im Gesicht. Er trug ein rotkariertes Holzfällerhemd und einen grünen Pullover darüber. An seiner Brust hing eine Silberkette mit einem Kreuz. Seine Jacke hatte der Junge sich um die Hüften gebunden. Seine Unschuld rührte sie und machte ihr die Entscheidung schwerer, die sie zu treffen hatte. Sie jagte nach ganz bestimmten Prinzipien.
Schwache und Kranke erlöste man zuerst. Leitpersonen und stillende Mütter wurden verschont. Man nahm nur, was man auch verwenden konnte, oder musste es bis zum Verzehr sicher verwahren. Manche Vampire jagten auch nach Trophäen, fotografierten ihre Opfer oder nahmen sich ein Andenken mit. Aber davon hielt Johanna nichts. Die Jagd war für sie einfach eine Notwendigkeit, der man nachging, weil sie das Überleben sicherte. Sie konnte zwar nicht abstreiten, dass sie Spaß dabei hatte, doch es war nichts, was mit Grausamkeit zu tun hatte. 
„Gud“, gab Johanna zurück. „Gud Wetter.“
Sie wusste, dass ihr Englisch etwas unbeholfen klang, aber sie hatte die Sprache immer besser verstehen als sprechen können. In der Siedlung wurde Englisch zwar gelehrt und die Jungvampire konnten es alle ziemlich gut sprechen. Aber untereinander verwendeten sie nur isländisch. Johanna beherrschte außerdem die alte Vampirsprache, die schon zur Geburt der Ältesten überall gesprochen wurde. Doch die jungen Leute des Dorfes zeigten kaum noch Interesse daran, diese zu lernen. Sie hielten die Vampirsprache für eine tote Sprache, wie Latein, die man nur brauchte, um alte Schriften zu entziffern. Und da sie ohnehin keinen Zugang zu den Bibliotheken der Ältesten hatten, weigerten sich die meisten Kinder, sich damit zu befassen.
„Sind Sie ganz alleine hier in die Wildnis gekommen?“, fragte der junge Rothaarige und riss Johanna damit aus ihren Gedanken. „Ist es nicht viel zu gefährlich für eine ältere Dame hier draußen?“
Johanna verzog den Mund zu einem leichten Lächeln, achtete jedoch darauf, ihre spitzen Zähne nicht zu zeigen. Sie wollte den jungen Mann schließlich nicht erschrecken. Ein Opfer in den letzten Momenten seines Lebens zu quälen, war unnötig. Und ob dieser Mann überhaupt ein Opfer werden würde, war noch lange nicht entschieden.
„Isch wonne iim Taal“, gab Johanna stockend zurück. „Isch machee Pause.“
Der Mann sah zu dem Dorf hinunter und riss erstaunt die Augen auf.
„In diesem Dorf?“, fragte er. „Ich wusste gar nicht, dass so weit oben überhaupt noch Menschen wohnen.“
Tun sie auch nicht, dachte Johanna bei sich, behielt den Kommentar jedoch für sich.
„Wiir sind kleine Doorf“, erwiderte sie stattdessen. „Isch biin Johanna. Uund du?“
„George“, verkündete der Junge und streckte ihr die Hand entgegen.
Johanna ergriff sie zögernd. Der junge Mann roch gut. Gesund und kräftig. Er wäre ein Festmahl für die Kinder. Aber wäre es klug, ihn aus seinem Leben zu reißen?
„Uurlaub?“, fragte sie möglichst beiläufig und George nickte.
„Ich bin hier, um zu wandern. Semesterferien.“
Ein Student also.
„Keeine Freundin?“
„Nein. Ich bin im Moment solo. Von meinen Kumpels wollte auch keiner mit.“
„Aaber sie wissen, dass du bist hiier, ja?“
„Natürlich. Ich habe sie ja gefragt, ob sie mitwollen, aber sie hatten keine Lust. Wandern am Arsch der Welt? Ich meine … Entschuldigung. Sie leben ja hier.“
Johanna lächelte nachsichtig. Island lag wirklich am Ende der Welt. Das konnte niemand bestreiten. Und das war vermutlich auch der Grund, warum ihre Gemeinschaft von den Ältesten unbehelligt blieb.
„Kiinder?“, fragte Johanna und erntete dadurch einen ungläubigen Blick.
„Definitiv nicht“, gab George zurück. „Und selber?“
„Drrei Kinder, sechs Eenkel, fünfzeehn Ureenkel, zwei Urureenkel.“
Beeindruckt pfiff George durch die Zähne.
„Da waren Sie aber fleißig.“
Johanna zuckte mit den Schultern.
„Isch biin aalt“, entgegnete sie schlicht.
George sah sie an, als würde er sich wünschen, niemals in ihr Alter zu kommen. Und das war der Moment, in dem Johanna ihre Entscheidung traf.
„Haast du Lust, iin meein Dorf zu kommen?“, fragte sie lang gezogen. „Isch laade disch zum Eessen ein.“
Es klang beiläufig, als wäre es absolut unwichtig, wie er sich entschied. Und eigentlich war es das sogar wirklich. Johanna war es so leid, über das Leben oder den Tod zu entscheiden. In den letzten zwanzig Jahren hatte sie so viel Tod und Leid gesehen, dass es für den Rest ihres Lebens genügte. Natürlich wäre es toll, wieder einmal frisches Blut zu bekommen, aber niemand im Dorf wusste von George. Solange sie ihren Urenkeln nichts von ihm erzählte, würde niemand auf die Idee kommen, dass sie wissentlich ein Abendessen entkommen lassen hatte. Sie hatte einfach keine Lust darauf, George zu irgendetwas zu zwingen. Tragen konnte sie ihn sowieso nicht.
Das bedeutete, entweder kam er freiwillig mit oder sie würde ihn gehen lassen. Ihn nur für sich allein zu töten, wäre Verschwendung, und ihm etwas Blut abzuzapfen und ihn dann am Leben zu lassen, erschien ihr unangemessen für ihr Alter. Vor sechzig Jahren hätte sie das noch gemacht. Sie hätte ihn damals möglicherweise sogar verführt und ihm einen unvergesslichen Nachmittag beschert. Doch diese Zeiten waren lange vorbei.
George zögerte und sah zu dem Dorf hinunter. Die kleinen Häuser hatten dunkle Dächer und standen dicht an dicht. Es gab keine größeren Straßen und er konnte kein einziges Auto erkennen. Johanna konnte regelrecht spüren, wie die Neugier in ihm wuchs. Doch dann schüttelte er den Kopf.
„Nein“, sagte er. „Lieber nicht …“
Johanna lächelte müde.
„Keein Prooblem“, sagte sie. „Aaber du solltest nischt hiiieer bleiben. Ist gefährlisch, diese Berge, wenn duuu nischt kennst. Geh zurück, auf anderee Seite von Schlucht. Iischt besser.“
Johanna stand auf. Doch gerade als sie losgehen wollte, durchfuhr ein stechender Schmerz ihre Stirn und ließ sie zurücktaumeln. Sie kannte das Gefühl nur zu gut. Es war, als stäche man tausend heiße Nadeln gleichzeitig in ihr Gehirn und würde dabei Bilder auf ihre Netzhaut projizieren. Johanna keuchte. Sie sah einen Mann und eine junge Frau, die in Reykjavik aus einem Flugzeug stiegen. Das Mädchen hatte sie noch nie gesehen. Doch den Mann kannte sie dafür umso besser.
Siebzig Jahre waren seit ihrer letzten Begegnung vergangen, und er hatte sich kein bisschen verändert. Dieselbe Statur, derselbe Gang, dieselben harten Augen. Tränen stiegen Johanna in die Augen, während sie sein kantiges Gesicht betrachtete. Darrek war auf dem Weg hierher. Der Sohn der Ältesten. Der Rebell und Krieger. Ihr Bruder.
Die Bilder veränderten sich und wechselten in wilder Folge. Es war schon immer schwer gewesen, die Visionen zu interpretieren, aber in diesem Falle war Johanna sicher, wie sie sie zu deuten hatte. Darrek war nach Island gekommen und würde bald hier sein. Und vielleicht … ja, vielleicht würde er sogar rechtzeitig da sein, bevor der Vollmond sein nächstes Opfer einforderte. Das kam ganz auf die Entscheidungen an, die er traf.
Johanna schrie auf, als die Bilder abrissen. Der Schmerz verschwand so schnell, wie er gekommen war, aber die Gefühle hallten nach. Zwei Tropfen Blut rannen aus ihren Augen und sie wusste, dass das Weiße ihrer Augen rot unterlaufen war. So war es immer nach einer Vision. Johanna fühlte sich vollkommen desorientiert und wusste gar nicht, wie ihr geschah, als George beherzt nach ihrem Arm griff.
„Alles in Ordnung, Lady?“, fragte er. „Ihre Augen … Ich … Geht es Ihnen gut?“
Johanna schüttelte den Kopf, um ihn wieder klar zu kriegen, aber der junge Mann missverstand die Geste.
„Wir müssen Sie zu einem Arzt bringen“, verkündete er. „Sie hatten bestimmt einen Schlaganfall oder so etwas. Kommen Sie. Ich begleite Sie zu Ihrem Dorf.“
Johanna wollte zuerst abwehren, doch dann überlegte sie es sich anders. Warum sollte sie dieses Angebot ablehnen? Darrek würde kommen. Und das würde gewiss ein Grund zum Feiern sein. Und auf einer Feier sollte man immer etwas Gutes zu essen bereithalten. Das verlangten allein schon die guten Manieren. Und wenn das Festmahl sogar bereit war, sie freiwillig zu begleiten, sollte man so etwas nicht ausschlagen.
„Jaaa“, sagte sie daher. „Daaanke. Geehen wiir.“

 Kapitel 3

Island war kalt. Das war das Erste, was Laney feststellen musste, als sie in Reykjavik aus dem Flugzeug stiegen. Die Umgebung von Buffalo, wo Laney ihre Kindheit verbracht hatte, war zwar auch kalt gewesen, aber Laney hatte ein Jahr lang in Spanien gelebt und war danach in Afrika gewesen. Dementsprechend war sie nicht mehr an die Kälte gewöhnt und auch kleidungsmäßig kaum darauf eingestellt. Sie trug immer noch das T-Shirt und die kurze Hose, die sie sich in Afrika besorgt hatte, nachdem sie von der Insel geflohen waren. Die Kleidung, die sie während der Reise von Spanien aus angehabt hatte, war im Mülleimer gelandet. In Afrika war ihr der Gedanke unerträglich erschienen, mit langer Hose und Jacke herumzulaufen. Doch Darrek hatte sie auch viel zu lange im Unklaren darüber gelassen, wo es hingehen sollte. Als sie am Flughafen von Marokko endlich verstanden hatte, wo es hingehen sollte, war es bereits zu spät gewesen, um sich noch wettergemäß einzukleiden.
Darrek war besser ausgerüstet. Er trug eine lange Jeans und ein Pullover hing lässig über seiner Schulter. Auf seinen nackten Armen hatte sich eine Gänsehaut gebildet, aber er schien die Kälte gar nicht wahrzunehmen. So wie Laney ihn bisher kennengelernt hatte, wartete er darauf, dass sie etwas sagen würde. Vorher käme er bestimmt nicht auf die Idee, ihr eine Jacke zu besorgen. Laney biss sich auf die Unterlippe.
„Es ist kalt“, brachte sie schließlich hervor, während sie mit Darrek durch den Flughafen lief.
„Hm. Und?“
„Wie und?“ Laney blieb stehen. „Mir ist kalt, Darrek. Ich brauche andere Klamotten.“
„Na, das klingt doch schon ganz anders“, stellte Darrek lächelnd fest und blieb ebenfalls stehen. „Wenn du jetzt auch noch ein ‚bitte‘ zu deinem Satz hinzufügen könntest, wäre ich vielleicht geneigt, deiner Aufforderung nachzukommen.“
Laney verschränkte die Arme vor dem Körper.
„Du hast mich entführt, schon vergessen? Und dann hast du mich erpresst, dich nach Island zu begleiten, um irgendwelche Wilden zu jagen. Ich glaube nicht, dass ich dir Höflichkeit schuldig bin.“
Darrek zuckte die Schultern und ging weiter.
„Hey“, rief Laney und rannte ihm hinterher. „Ich rede noch mit dir.“
„Das höre ich.“
„Und?“
Darrek zog den Pullover von seiner Schulter und warf ihn Laney zu.
„Zieh das an. Und dann komm weiter. Kein bitte. Keine neuen Klamotten.“
Ungläubig starrte Laney den Wollpullover an. Es ersetzte natürlich nicht Jacke und Hose, aber trotzdem war Laney eigenartig gerührt über die Geste. Darrek war bereit, selbst zu frieren, damit sie es nicht tat. Was sie bei Jason oder Greg für eine Selbstverständlichkeit gehalten hätte, bekam bei Darrek eine ganz andere Bedeutung. Laney zog den Pullover über den Kopf. Er war ihr viele Nummern zu groß, aber er war weich und warm. Hinzu kam, dass er immer noch Darreks Geruch an sich trug. Herb, männlich ... angenehm. Es erinnerte Laney daran, wie Darrek ihr das Leben gerettet hatte, indem er ihr von seinem Blut gegeben hatte. Nie zuvor war sie einem Mann so nahe gewesen und der Gedanke daran ließ sie erröten. Es war ihr peinlich, wie sie auf ihn reagiert hatte, und es irritierte sie, dass sein Geruch ihr nicht unangenehm war, wie es eigentlich hätte sein sollen. Verdammt. Sie hatte wirklich genug Gründe, um Darrek zu misstrauen und um ihn nicht zu mögen. Wie konnte es dann sein, dass er so eigenartige Gefühle in ihr hervorrief?
Darrek stieß die Tür des Flughafens auf und kalte Luft fuhr Laneys nackte Beine entlang. Sie fröstelte und schlang die Arme um sich. Der Pullover war hilfreich, aber er reichte bei weitem nicht. Es schneite zwar nicht, aber der Wind war eisig. Die Menschen um sie herum trugen alle dicke Jacken und sahen Laney kopfschüttelnd an. Wer kam denn schon im Herbst mit kurzer Hose nach Island?
Warmblüter konnten zwar Kälte besser vertragen als Menschen, aber dabei ging es nur um ein paar Grad. Der Kältetod war für einen Vampir der Herrenrasse durchaus möglich. Als Laneys Zähne anfingen zu klappern, drehte Darrek sich zu ihr um und schimpfte los.
„Fällt es dir wirklich so schwer, mich nett zu bitten, Prinzessin? Mehr will ich doch nicht.“
„Ich … werde … nicht … betteln“, bibberte Laney.
„Ich will nicht, dass du bettelst. Ich will nur, dass du bitte sagst.“
Laney zog die Brauen zusammen. Hier ging es um mehr als um eine Höflichkeitsfloskel. Es ging um Macht und darum, wer den längeren Atem behielt. Wenn Laney nachgab und bitte sagte, hieße das, Schwäche zu zeigen. Und sie wollte sich so dringend ein letztes bisschen Würde in dieser vertrackten Situation erhalten. Stur presste sie die Lippen aufeinander und zitterte weiter vor sich hin.
Enttäuscht schüttelte Darrek den Kopf und drehte sich zur Straße um, wo er ein Taxi heranwinkte.
„Was … hast … du … vor?“, fragte Laney.
„Dir was zum Anziehen besorgen“, antwortete Darrek, während er Laney die Tür aufhielt. „Kara bringt mich um, wenn du dir eine Erkältung holst.“

Einige Stunden später war Laney vollständig neu eingekleidet. Sie hatte eine wind- und wetterfeste Jacke, Jeans, Handschuhe und knallrote Ohrenschützer gekauft. Tagsüber waren die Temperaturen zwar auch ohne Handschuhe erträglich, aber wie es aussah, würden sie möglicherweise auch nachts unterwegs sein. Darrek hatte sich nur eine Jacke gekauft und außerdem zwei Wanderrucksäcke besorgt.
Nun stand Darrek draußen vor einem Schuhgeschäft und wartete ungeduldig. Dabei konnte er nur hoffen, dass sie am Ende zumindest mit festem Schuhwerk und nicht mit roten Pumps wieder zum Vorschein kommen würde.
Um sich abzulenken, kramte Darrek sein Handy hervor und wählte Williams Nummer. Es dauerte eine ganze Weile, bis der Kaltblüter endlich abnahm. Im Hintergrund schien ein Sturm zu toben.
„Hallo?“
„William. Hier ist Darrek. Was ist denn da bei dir los? Wo bist du?“
„Hier ist es furchtbar stürmisch“, erklärte William. „Wir sind immer noch auf der Eingeboreneninsel.“
„Was? Warum denn das?“
„Unser Segelboot war beschädigt. Wir haben es zwar geschafft, die kleine Vogelinsel zu verlassen, aber dort gab es kein anderes größeres Boot mehr. Und Liliana wollte nicht mit einem Ruderboot zurück nach Europa paddeln.“
„Ihr hättet uns doch nach Marokko folgen können.“
„Sicher. Aber Liliana hat ja keinen Pass mehr. Und ohne Pass ist es schwierig, Marokko zu verlassen.“
Nachdenklich nickte Darrek. Das war eine gute Neuigkeit. Je länger Liliana irgendwo festsaß, desto länger hatte er seine Ruhe vor ihr.
„Hat Liliana schon Akima benachrichtigt?“
„Nein“, rief William ins Telefon.
Der Sturm verschluckte fast seine Worte.
„Wir mussten warten, bis das Boot repariert war. Und sie hat hier keinen Empfang. Es ist eigentlich auch ein Wunder, dass du durchgekommen bist.“
„Allerdings.“
„Tja. Und jetzt ist zwar das Boot wieder in Ordnung, aber die Witterung macht uns einen Strich durch die Rechnung. Wir werden bestimmt noch ein paar Tage hier festsitzen.“
Darrek verstand nur noch die Hälfte von dem, was William sagte, aber er war noch nicht bereit, das Gespräch zu beenden.
„Was hat Liliana als Nächstes vor?“, fragte er.
„Das weiß ich nicht ... erstmal … Europa. Und dann … Akima in Kontakt setzen. Sie … Angst … Entweder … nach Hause oder … Akima … Idee, wo … suchen könnte.“
„Was? Und was ist mit dir?“
William zögerte, und zwar solange, dass Darrek schon befürchtete, die Verbindung wäre ganz abgebrochen.
„Ich … nicht sicher“, sagte William dann. „Ich … unsichtbar. Ich werde … Nähe bleiben, bis … was sie vorhaben. Aber dann … Ich werde … Aufständischen anschließen.“
„Was?“
Darrek war fassungslos. Hatte er das richtig verstanden? William wollte sich den Aufständischen anschließen?
„Du … richtig gehört“, stellte William klar. „Ich finde … Zeit, den Ältesten … Stirn zu bieten.“
Darrek sah, wie Laney mit einem Paar solider Wanderschuhe aus dem Laden kam, und atmete erleichtert aus.
„Du willst also zu Laneys Familie?“, hakte er dann noch einmal nach. „Zu Jason?“
„Ja“, bestätigte William.
„Und was ist mit Annick und Alain?“
Darrek hörte, dass William versuchte, ihm zu antworten, aber die Worte kamen einfach nicht mehr bei ihm an. Er verstand kein Wort.
„Hör zu, Will. Die Verbindung ist einfach zu schlecht. Wir müssen jetzt aber auch weiter“, erklärte er. „Wir werden uns für heute Nacht ein Hotelzimmer in der Stadt nehmen. Es ist schon spät und sinnlos heute noch loszufahren. Danke für die Informationen, Will. Du bist ein wahrer Freund.“
„Gerne … pass … Laney auf, ja?“ war das Einzige, was Darrek noch entschlüsseln konnte.
Laney kam lächelnd auf ihn zu und Darrek nickte ihr zu.
„Das mache ich, Will“, versprach er. „Ich melde mich wieder bei dir.“
Dann legte er auf und machte sich mit Laney zusammen auf die Suche nach einem Hotel.

Als das Gespräch abgebrochen war, steckte William das Handy wieder in seine Hosentasche und sah sich um. Die Insel war ein einziges Trümmerfeld. Die Menschen hatten sich in den provisorischen Hütten zusammengerottet und beteten, dass ihnen das Dach über dem Kopf nicht davonfliegen würde. Liliana, Annick und Alain hatten sich ebenfalls einen Unterschlupf gesucht, sodass William der Einzige war, der sich noch draußen aufhielt. Unsichtbar zu sein, hatte einen entscheidenden Nachteil. Man konnte nicht einfach anfangen zu telefonieren, wenn man sich in der Nähe von Menschen aufhielt. Eine Stimme aus dem Nichts zu hören, erschreckte die armen Dinger viel zu sehr, und William wollte ja niemanden ärgern.
Diese Menschen hatten ihm nichts getan. Deswegen war er sofort nach draußen gegangen, als sein Handy vibriert hatte. Doch jetzt nach dem Gespräch mit Darrek fühlte er sich plötzlich einsam. Mit niemandem reden zu können, um die eigene Position nicht zu verraten, war traurig. Missmutig beschloss er, wieder nach drinnen zu gehen, um ebenfalls Schutz vor dem Sturm zu suchen. Liliana blickte sofort zur Tür, als er hereinkam.
„Du kannst dir diese Maskerade eigentlich sparen, William“, sagte sie. „Wir wissen, dass du noch hier bist.“
William antwortete ihr nicht. Natürlich hatte sie bemerkt, wie die Tür auf und wieder zu gegangen war. Aber nur weil sie wusste, dass er da war, bedeutete es noch lange nicht, dass sie auch wusste, wo genau er war. Und solange sie ihn nicht lokalisieren konnte, konnte sie auch ihre Gabe nicht bei ihm einsetzen.
„Warum bist du eigentlich nicht mit einem der Ruderboote verschwunden, bevor der Sturm anfing?“, fragte Liliana weiter. „Du hättest doch keinerlei Probleme, dich in ein Flugzeug zu schmuggeln, um zurück nach Amerika zu kommen.“
Wieder antwortete William nicht. Verunsichert sahen die beiden Eingeborenen, denen das Haus gehörte, Liliana an und wunderten sich, mit wem sie wohl sprechen mochte. Angst spiegelte sich in ihren Gesichtern wieder und William wollte sie nicht noch mehr erschrecken. Außerdem wäre es kontraproduktiv, Liliana über seine Pläne zu unterrichten. Er war noch hier, weil er herausfinden wollte, was sie vorhatte. Danach würde er Darrek informieren und sich den Aufständischen anschließen.
„Wir hätten niemals hierher kommen sollen“, sinnierte Liliana. „Akima wird mir den Kopf abreißen, wenn sie davon erfährt, wie schief alles gelaufen ist.“
Frustriert schüttelte sie den Kopf.
„Bist du deswegen noch hier, Will? Um zu sehen, wie sie mir den Kopf abreißt?“
William lächelte, hüllte sich aber weiter in Schweigen. Akima würde Liliana kein Haar krümmen. Sie brauchte die junge Frau noch. Und William würde zur Stelle sein, um herauszufinden, wofür eigentlich.






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