Rauch an Bord von Lufthansa Boeing 747 (Austrian Wings)
„Würden Sie bitte das Fenster öffnen?“
„Would you open the window, please?“
„Puede abrir la ventana por favor?“
Irritiert öffne ich die Augen und sehe, wie
nacheinander alle Klappen an den Fenstern des Flugzeugs hochgezogen werden,
sodass mir grelles Sonnenlicht entgegenschlägt. Ich blinzele. Wie spät ist es
denn überhaupt? Neun Uhr morgens, nach mexikanischer Uhrzeit. Zeit fürs Frühstück
vielleicht? Aber trotzdem ist es eigentlich ungewöhnlich, dass die Stewardessen
einen so unsanft aus dem Schlaf reißen. Langsam richte ich mich auf und reibe
mir die Augen. Ich habe vielleicht fünf Stunden geschlafen.
Nachdem das Flugzeug in Mexiko schon mit fast fünf
Stunden Verspätung losgeflogen war, hatten wir uns eigentlich alle etwas Ruhe
verdient. Aber an diesem Tag schien wohl irgendwie alles schief zu gehen. Die
Verspätung war dadurch zustande gekommen, dass ein Teil an den Bremsen defekt
war und ausgetauscht werden musste. Das klang natürlich von Anfang an nicht
besonders vertrauenserweckend. Aber uns Fluggästen blieb in dem Moment nichts
anderes übrig, als den Technikern und dem Piloten zu Vertrauen in deren Hände wir unser Leben
gelegt hatten.
Nach zwei Stunden Wartezeit hatte sich der Pilot
wieder bei uns gemeldet.
„Wir haben eine gute und eine schlechte
Nachricht“, erklärte er. „Die Gute ist, dass wir das gesuchte Ersatzteil
gefunden haben und es momentan eingebaut wird. Die Schlechte ist, dass wir die
hintere Ausgangstür nicht mehr benutzen können und daher alle Passagiere aus
den Reihen 50-56 bitten müssen auszusteigen.“
Ein Aufstöhnen ging durch die Menge der
Passagiere. Aufgrund der angestauten Hitze hatte irgendein Idiot scheinbar die
hintere Notausgangstür geöffnet, um Frischluft ins Flugzeug zu lassen. Dabei
war die Notrutsche aufgegangen. Die Nottür war dadurch natürlich unbrauchbar
geworden und die Passagiere in der Nähe dieser Tür mussten aussteigen. Ich saß
in Reihe 41 und war daher nicht betroffen. Dennoch blieb bei mir ein mulmiges
Gefühl zurück, als die Passagiere das Flugzeug verließen. So ein Gefühl, dass
ich vielleicht lieber mit ihnen gehen sollte. Man wusste schließlich nie, was
noch kommen konnte. Meine Gedanken wanderten automatisch zu dem Film „Final
destination“. Aber das war wahrscheinlich Unsinn. Ich war also geblieben, und
hatte sogar zu denen gehört, die sich nach dem Start einen Platz auf den
verlassenen Sitzen zwischen Reihe 50 und 56 sichern konnten, um sich zum
Schlafen auszustrecken.
Als ich jetzt allerdings sehe, wie die
Stewardessen die schlafenden Passagiere wachrütteln, wünsche ich mir plötzlich,
ich hätte doch das Flugzeug verlassen, als ich noch die Möglichkeit dazu hatte.
Jetzt ist es zu spät. Jetzt kann ich nur noch beten und hoffen, dass es doch
nur um das Frühstück geht und alles in Ordnung ist.
„Meine Damen und Herren“, erklingt in diesem
Moment die Stimme des Piloten aus dem Cockpit und ich bekomme eine Gänsehaut. „Ich
muss Ihnen leider mitteilen, dass es Rauchbildung im Cockpit und im
Businessbereich gegeben hat. Daher sind wir dazu gezwungen eine außerplanmäßige
Landung auf den Azoren einzuleiten. Wir möchten Sie daher bitten sich jetzt
alle auf die Landung vorzubereiten. Wir werden in zwanzig Minuten landen.“
In zwanzig Minuten? Ich starre ungläubig den
Monitor an und hoffe mich verhört zu haben. Aber als die Informationen noch
einmal auf Englisch und dann auf Spanisch wiederholt werden wird mir klar, dass
der Pilot es absolut ernst meint. Rauch,
geht es mir durch den Kopf. Feuer.
Feuer an Bord eines Flugzeugs? Das kann nun wirklich nichts Gutes bedeuten. Ich
schlucke und wende mich dann einer Stewardess zu. Bisher scheinen alle Leute
noch ganz ruhig zu sein. Kein Grund zur Panik also.
„Müssen wir jetzt wieder auf unsere alten Plätze
zurück?“, frage ich zögerlich.
„Ja“, bestätigt die Dame. „Bitte nehmen Sie zur
Landung wieder ihre alten Plätze ein. Die hinteren Reihen müssen frei bleiben.“
Ich nicke und fühle mich wie betäubt, während ich
meine Sachen einsammele und mich auf den Weg zurück zu Reihe 41 mache. Meine
Gedanken fahren Karussell. Eine Notlandung. Oder zumindest eine
Sicherheitslandung. Auf den Azoren. Wo um Himmels Willen sind denn die
Azoren?
Ich verstaue mein Handgepäck, setze mich hin
schnalle mich an. Dann nehme ich das Hundekissen in den Arm, das meine Mutter
mir als Ersatz für die vergessene Nackenrolle mitgegeben hat. Seine Nähe ist
tröstlich und ich versuche mir keine Sorgen darüber zu machen, was alles
passieren könnte.
Neben mir fangen die anderen Passagier an im
Lufthansa Magazin nach einer Karte zu suchen, wo ausgeschrieben steht, wo die
Azoren sich überhaupt befinden. Ich folge ihrem Beispiel und bin erstaunt. Die
Azoren sind noch ziemlich weit vom Festland entfernt und wirken absolut winzig.
Sofort ist die Nervosität wieder da. Wir sind in einem riesigen Flugzeug. In
einer Boeing 747. Wie um Himmels Willen soll so ein Flugzeug auf dem Flughafen
einer so kleinen Insel landen? Vor allem, wenn es vor ein paar Stunden noch
defekte Bremsen hatte. Mein Magen verkrampft sich und ich lege das Magazin
wieder weg.
Jetzt geht es abwärts. Aber immer noch ist es
ziemlich ruhig im Flugzeug. Dann jedoch ertönt die Stimme einer Stewardess
durch den Lautsprecher. Sie klingt hektisch du gestresst.
„Ich muss Sie jetzt wirklich bitten sich dringend auf
die Landung vorzubereiten. Stellen Sie die Rückensitze gerade, klappen Sie die
Tische ein und lassen Sie auf gar keinen Fall etwas in den Gängen liegen.
Verstauen Sie bitte ihr Gepäck. Ich wiederhole. Verstauen Sie ihr Gepäck, damit
der Weg zu den Notausgängen frei ist.“
Ich umarme das Kissen noch fester und keuche auf,
als das Flugzeug einen Satz macht und heftig anfängt zu wackeln.
Die Stewardess wiederholt ihre Aufforderung mit
ähnlicher Intensität auf Englisch und Spanisch. Wenn uns bis dahin nicht klar
war, wie erst die Situation ist, dann wissen wir es spätestens jetzt. Wir
werden notlanden. Vielleicht sogar im Wasser. Und wir werden wahrscheinlich das
Flugzeug über die Notrutschen verlassen müssen. Die Nervosität des Personals
ist ansteckend. Aber trotzdem bleibt alles still. Niemand schreit. Niemand
flippt aus. Jeder bleibt mit seinen Sorgen für sich. Und alle hoffen und beten.
Es ist interessant, was einem in solchen Momenten
für Gedanken durch den Kopf gehen. Ich war nie ein religiöser Mensch und werde
wohl auch nie einer sein. Aber in diesem Moment wünsche ich mir plötzlich, dass
es einen Gott gäbe, zu dem ich sprechen könnte. Dass ich diesen Glauben hätte
und mich dadurch besser fühlen könnte. So jedoch bleibt mir nichts anderes als
zu hoffen, dass irgendwie alles gut wird. Dass der Pilot weiß, was er tut und
dass die Bremsen nicht versagen. Das Flugzeug rappelt wieder heftig und ich
sehe draußen immer noch nichts als Wasser, Wasser und noch mehr Wasser. Das
wars dann wahrscheinlich, schießt es mir durch den Kopf.
Was das für ein Schock wird das für meine Familie
sein, wenn ich nicht mehr wiederkomme. Für meinen Freund, mit dem ich
zusammenlebe. Für die Freundinnen, die ich in Mexiko besucht habe und natürlich
auch für meine Freunde zu Hause. Ich werde nie mein Studium beenden. Nie Kinder
bekommen. Und die Leute werden nie erfahren, wie Nubila ausgeht. Verrückt
eigentlich, aber der Gedanke beschäftigt mich fast am meisten. Natürlich wäre
es mir wichtiger zu überleben als meine Serie zu Ende zu schreiben. Aber
trotzdem. Wenn ich schon sterben müsste, wäre es toll sie beendet zu haben.
Toll zu wissen, dass etwas von mir bleibt. Auch für Menschen, die mich nie
kannten und die ich nie kennen werde.
Reiß dich zusammen, Hannah, sage ich zu mir
selber. Noch bist du nicht tot und noch ist gar nichts Schlimmes passiert.
Siehst du hier irgendwo Feuer? Nein. Riechst du überhaupt Rauch? Eigentlich
auch nicht. Dann kann es also gar nicht so schlimm sein. Ich schlucke, drücke
das Kissen noch enger an mich und schließe die Augen. Es rappelt wieder, ein
paar Passagiere schreien auf, aber niemand gerät wirklich in Panik. Wir sinken,
und sinken… und setzen auf. Es holpert. Wir bremsen. Und ich halte den Atem an.
Die Bremsen greifen und schließlich kommen wir endlich zum Stehen. Wir haben es
geschafft. Wir sind unten. Heil und gesund.
Alle Passagiere fangen an zu klatschen und mir
schießen vor Erleichterung Tränen in die Augen.
„Estas bien?“, fragt mein Sitznachbar mit dem ich
mich in Mexiko City während der Wartezeit eine Weile unterhalten hatte.
Ich kann nur nicken. Ja. Es geht mir gut. Uns
allen geht es gut. Dank dem Piloten und einer großen Portion Glück ist alles
gut gegangen und wir sind heil in Terceira auf den Azoren angekommen. Ich
lächle und rufe sofort meinen Freund an.
„Ich habe im Internet gesehen, dass ihr plötzlich
abgedreht seid“, sagt er. „Ich habe einen riesen Schreck bekommen.“
„Nicht nur du“, bemerke ich unglücklich und ärgere
mich darüber, dass meine Stimme so zittrig klingt. „Ich bin bloß froh, dass wir
endlich unten sind. Kannst du meiner Mutter sagen, dass wir notlanden mussten?
Sie wartet sicher schon am Flughafen.“
„Natürlich mache ich das. Melde dich wieder sobald
du was weißt. Ich hole dich dann ab. Egal um welche Uhrzeit.“
„Danke“, sage ich. „Ich liebe dich, Schatz. Ich werde
so froh sein, wenn ich wieder zu Hause bin.“
„Ich liebe dich auch. Und sieh es positiv, Hannah.
So lernst du nochmal die Azoren kennen.“
Ich muss lachen und es geht mir schon gleich
wieder besser.
In den nächsten Stunden wird nach vielem Hin und
Her beschlossen, dass wir die Nacht auf der Insel verbringen werden und dass
uns am nächsten Tag ein anderes Flugzeug abholt. Wir Treppen an die Ausgänge
geschoben. Die Feuerwehr ist zwar da, aber scheinbar gibt es kein Feuer und die
Situation war weniger gefährlich als gedacht. Nach Stunden werden wir endlich
in Hotels gebracht.
Die Insel ist tatsächlich wunderschön und ich
lerne viele nette Leute kennen, die mein Schicksal teilen und mit mir
gestrandet sind. Wir bekommen ein wunderschönes Hotel mit Meerblick und so
langsam weicht der Schock. Wir haben es überstanden. Es ist nochmal gut
gegangen und wir werden wieder nach Hause kommen. Ich verbringe eine ruhige
Nacht in einem schönen Hotel und freue mich am nächsten Tag darauf endlich nach
Hause zu kommen.
Natürlich ist es dann aber nicht ganz so einfach.
Da die Flughafenmitarbeiter nicht daran gewöhnt sind so große Flugzeuge zu
versorgen, dauert es zwei weitere Stunden, bis wir endlich loskommen. Der Flug
verläuft dann glücklicherweise sehr problemlos und wir treffen schließlich am
Samstagabend (09.03.13) um 19 Uhr (nach deutscher Zeit) mit 28 Stunden Verspätung in
Frankfurt ein. Ursprüngliche Ankunft wäre am Freitag (08.03.13) um 15 Uhr gewesen. Hätte
ich also zu denen gehört, die in Reihe 50-56 saßen, dann wäre ich wahrscheinlich
eher in Deutschland eingetroffen als jetzt.
Aber dann hätte ich wohl auch niemals die Azoren kennengelernt und hätte jetzt nichts zu erzählen. J